Wer in Österreich einen Hausarzt sucht, hat es in manchen Regionen schwer. Während die Zahl der Wahlärzte sich seit dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt hat, stagniert die Zahl der Kassenärzte in der Allgemeinmedizin. Die Zahl der Fachärzte geht sogar zurück. Politik, Ärztekammer und die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) diskutieren verschiedene Strategien zur Attraktivierung von Kassenarztstellen.
Österreichs Ärztedichte im europäischen Vergleich
Im europäischen Vergleich weist Österreich eine überdurchschnittlich hohe Ärztedichte auf. Zu diesem Ergebnis kommt die OECD und setzt Österreich im Ranking der Ärztedichte mit im Schnitt 5,2 praktizierenden Ärzten auf 1.000 Einwohner auf Platz 2 hinter Griechenland. Rein rechnerisch liegt Österreich damit weit über dem OECD-Durchschnitt von 3,5 Ärzten pro Einwohner. Diese Zahlen sagen aber nur wenig über die Realität der ärztlichen Versorgung in Österreich aus. Laut Ärztekammer vernachlässigt das OECD-Ranking, dass ein Drittel der hierzulande tätigen Ärzte nur teilbeschäftigt ist. Außerdem würden, anders als in anderen europäischen Ländern, auch in Ausbildung befindliche Mediziner hinzugerechnet.
Fast 200 Kassenstellen sind unbesetzt
Trotz theoretisch hoher Ärztedichte ergibt sich in der Praxis ein Verteilungsproblem. Vor allem auf dem Land besteht ein Ärztemangel. Allgemeinmediziner mit Kassenvertrag fehlen ebenso wie in den verschiedenen weiteren Facharztrichtungen. In manchen Regionen kann es schwierig sein, im näheren Umfeld einen Kassenarzt zu finden, ohne lange Wartezeiten in Kauf nehmen zu müssen.
Erschwerend kommt hinzu, dass laut Bundesrechnungshof die Zahl der Kassenarztstellen in der Allgemeinmedizin stagniert. Bei den Fachärzten ist die Zahl der Kassenstellen zwischen 2009 bis 2019 sogar um sechs Prozent zurückgegangen. Fast 200 Kassenplanstellen sind derzeit nicht besetzt, davon 121 in der Allgemeinmedizin.
Doch warum wird es immer schwieriger, eine offene Kassenplanstelle zu besetzen? Die Gründe für die Entwicklung sind vielfältig: Die ÖGK führt längere Öffnungszeiten in Gruppenpraxen und moderne technische Möglichkeiten als Ursachen an. Zudem sehen Ärzte die Tätigkeit als Vertragsarzt oft als unattraktiv an. Als Gründe nennen sie unter anderem die geringe Zeit, die für die Betreuung von Patienten zur Verfügung steht, und strenge Vorgaben wie vorgeschriebene Mindestöffnungszeiten.
Kassenarztstellen – Lösungsstrategien gegen die Stagnation
Mit welchen Maßnahmen lassen sich die offenen Kassenarztstellen besetzen? Politik, Ärztekammer und ÖGK diskutieren verschiedene Lösungsstrategien. Im Gespräch sind unter anderem Pflichteinsätze als Kassenarzt, eine Veränderung des Wahlarzt-Systems und flexiblere Verträge für niedergelassenen Mediziner.
Verpflichtende Tätigkeit als Kassenarzt
Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) hat im Mai 2022 vorgeschlagen, Medizin-Absolventen für eine bestimmte Zeit zur Tätigkeit als Kassenarzt zu verpflichten. So kann er sich beispielsweise vorstellen, dass junge Mediziner an zwei Tagen in der Woche als Kassenarzt arbeiten.
Die oberösterreichische Landeshauptmannstellvertreterin Christine Haberlander (ÖVP) hat Pflichtdienste für Wahlärzte ins Gespräch gebracht, um den Mangel an Kassenärzten auszugleichen, etwa im hausärztlichen Notdienst.
Die Ärztekammer lehnt beide Vorschläge entschieden ab und bezeichnet Rauchs Forderung als “Zwangsarbeit”. Die Kammer fordert stattdessen, die Tätigkeit als Kassenarzt attraktiver zu gestalten, unter anderem durch weniger Administration und höhere Honorare für ärztliche Gespräche.
“Modell Deutschland” statt Wahlarzt-System
Die Ärztekammer Oberösterreich und die Österreichische Gesundheitskasse (ÖKG) halten auch eine Veränderung beim derzeit praktizierten Wahlarzt-System für nötig. Als Vorbild soll das “Modell Deutschland” dienen: Dort betreuen Kassenärzte auch Privatpatienten. ÖKG und Ärztekammer sehen eine Adaptierung dieses Modells als eine Möglichkeit an, junge Ärzte zur Übernahme einer Kassenplanstelle zu bewegen. Der Kassenvertrag biete eine finanzielle Grundabsicherung, die Betreuung von Privatpatienten biete zusätzliche Anreize.
Dieses Modell würde nach Ansicht der Ärztekammer OÖ und der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖKG) auch dem Wunsch vieler Patienten nach mehr Zusatzleistungen und Service entgegenkommen. Um den wahlärztlichen und kassenärztlichen Bereich stärker zu verzahnen, könnten Patienten etwa gewisse, nicht von der ÖKG getragene Behandlungen selbst zahlen. Aktuell ist es Kassenärzten zwar grundsätzlich erlaubt, auch Privatpatienten zu behandeln, Patienten erhalten in diesem Fall jedoch die Behandlungskosten nicht erstattet. Der Vorschlag lautet nun, dass Kassenärzte ihr gewohntes Kassenhonorar abrechnen und die Differenz zum höheren Wahlarzt-Honorar durch eine Aufzahlung gedeckt wird. Um dies möglich zu machen, ist eine Änderung des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG) erforderlich.
Die erweiterten Möglichkeiten zur Behandlung von Privatpatienten sollen allen Beteiligten zugute kommen: Ärzte könnten durch die zusätzlichen Behandlungsmöglichkeiten ihre Einnahmen steigern, was wiederum zu höheren Investitionen in die Infrastruktur der Ordination führen würde. Davon würden dann wiederum die Patienten profitieren.
Die Voraussetzung für eine derartige Umgestaltung des Wahlarzt-Systems sind laut Ärztekammer OÖ und ÖKG gegeben. So zeigt etwa eine market-Umfrage, dass Patienten durchaus dazu bereit sind, mehr in die medizinische Versorgung zu investieren. Im Schnitt würden sie rund eine Milliarde Euro mehr für zusätzliche Leistungen ausgeben. Aktuell fließen knapp unter drei Milliarden Euro an Kassenärzte. Eine Umgestaltung des Wahlarzt-Systems könnte diese Summe um ein Drittel steigern. Auch unter den Kassenärzten ist die Bereitschaft hoch, Privatpatienten zu behandeln. In einer 2019 durchgeführten Umfrage äußerten 84,1 Prozent der Vertragsärzte, dass sie grundsätzlich dazu bereit seien.
Flexiblere Verträge für Kassenärzte
Bernhard Wurzer, Generaldirektor der ÖKG, spricht sich allerdings gegen ein grundsätzliches Verbot des Wahlarzt-Systems aus. Das würde vor allem die Rechte der Patientenschaft beschneiden. Er hält unter anderem flexiblere Verträge für Kassenärzte für nötig.
Wer heute als Vertragsarzt in der Allgemeinmedizin arbeiten möchte, kann aus verschiedenen Arbeitsmodellen wählen, von der Einzelpraxis mit Kassenarztvertrag über Jobsharing-Modelle bis hin zur Tätigkeit in Primärversorgungsnetzwerken oder in einer Gruppenpraxis. Da das Interesse an der Einzelordination abnehme und junge Ärzte lieber im Team arbeiten würden, möchte Wurzer mit der Ärztekammer über weitere Verbesserungen an diesen Modellen arbeiten. Flexible Vertragsmodelle würden sowohl den Arbeitsvorstellungen junger Mediziner entsprechen als auch den Anforderungen der Patientenschaft entgegenkommen.
Um junge Ärzte zur Übernahme einer Kassenstelle zu bewegen, sei auch mehr Unterstützung bei der Gründung einer Ordination erforderlich. So soll es Ärzten unter anderem ermöglicht werden, Leistungen wie das Terminmanagement oder die EDV auszulagern und so mehr Zeit für die Behandlung von Patienten zu gewinnen.
Einen weiteren wichtigen Schritt sieht Wurzer darin, mehr Ausbildungsplätze in der Medizin zu schaffen und die Ausbildung attraktiver zu gestalten. Darüber hinaus sieht er neben der ÖKG auch die Ärztekammer und die Politik in der Pflicht, die Vorteile von Kassenarztstellen hervorzuheben und für die Tätigkeit als Kassenarzt in der Allgemeinmedizin und den Fachrichtungen zu werben.