Berufsausübung bedeutet heute lebenslanges Lernen. Dies gilt im Gesundheitswesen genauso wie in jedem anderen Bereich. Wissen veraltet schnell und will “à jour” gehalten werden – dazu dient u.a. die berufliche Fortbildung. Bildungsmaßnahmen finden oft außerhalb der regulären Arbeitszeit statt: abends oder am Wochenende. Handelt es sich dabei um Arbeitszeit oder “Freizeitvergnügen”? Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) schafft Klarheit.
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Berufliche Fortbildung außerhalb regulärer Arbeitszeit
Viele Beschäftigte in Krankenhäusern, Kliniken, Gesundheitszentren und anderen medizinischen Einrichtungen kennen das – zumindest aus der Vergangenheit. Der Arbeitgeber ordnet eine Fortbildungsmaßnahme an, die außerhalb der normalen Arbeitszeit stattfinden soll. Die Teilnahme ist Pflicht. Andere zeitliche Optionen werden nicht geboten.
Trotz des verpflichtenden Charakters der Maßnahme im Rahmen des bestehenden Beschäftigungsverhältnisses wird die bei der Fortbildung verbrachte Zeit nicht als Arbeitszeit gewertet, sondern als Freizeit. Dementsprechend wird für diese “Pflichtzeiten” kein Lohn gezahlt, zum Beispiel in Form von Überstunden- oder Wochenendzuschlägen. Auch schon länger bestehende gesetzliche Regelungen wie das Krankenanstalten-Arbeitszeitgesetz liefern für die arbeitsrechtliche Einordnung solcher Maßnahmen keine hinreichende Klarheit.
Die Verlagerung der Fortbildung auf “Auszeiten” ist natürlich gewollt. Beschäftigte sollen während der regulären Arbeitszeit vollumfänglich für ihre beruflichen Aufgaben zur Verfügung stehen, die einsetzbaren Personalkapazitäten nicht durch berufliche Bildung eingeschränkt werden. Da der Arbeitgeber in der Regel bereits die Kosten der Fortbildung trägt, erspart man sich zumindest zusätzliche Personalkosten. Die Fortbildung am Abend oder am Wochenende ist nach diesem Kalkül eine vergleichsweise billige Lösung.
Die Handhabung von Fortbildungsmaßnahmen in dieser Weise wurde lange toleriert, obwohl es unter Beschäftigten immer wieder Unmut gab. Betroffen waren und sind vor allem höher qualifizierte und besser vergütete Kräfte, von denen man auch sonst in Sachen berufliches Engagement und Einsatzbereitschaft mehr als den Durchschnitt erwartet. Dieser – auch im Gesundheitswesen – beliebten Praxis hat der EuGH im vergangenen Jahr mit seinem Urteil einen Riegel vorgeschoben.
EuGH sagt “Nein” zu unentgeltlicher Pflicht-Fortbildung in der Freizeit
In dem vielbeachteten Urteil (EuGH-Urteil vom 28.10.2021 – Az: C-909/19) hat der Gerichtshof die Einstufung solcher Maßnahmen als unbezahlte Freizeit für unzulässig erklärt. Das wird sicher Auswirkungen auf das Fortbildungsgeschehen haben. Für Arbeitgeber wird es künftig deutlich teurer werden, solche Maßnahmen in berufliche Auszeiten zu verlegen. Es ist abzuwägen: Lohnt es sich für mich mehr, die Fortbildung in die reguläre Arbeitszeit zu legen und dafür auf Arbeitskraft zu verzichten? Nehme ich die Mehrkosten der Fortbildung außerhalb der regulären Arbeitszeit in Kauf? Verzichte ich womöglich ganz auf die Maßnahme?
Der EuGH-Entscheidung lag die Klage eines kommunalen rumänischen Feuerwehr-Angestellten in leitender Funktion zugrunde. Dieser musste an einer insgesamt 160 Stunden dauernden Fortbildung bei einem von seinem Arbeitgeber beauftragten Bildungsdienstleister teilnehmen. Die Maßnahme fand ausschließlich unter der Woche nach Dienstschluss oder am Wochenende statt und wurde vom Arbeitgeber nicht als Arbeitszeit gewertet – dementsprechend nicht vergütet. Zu Unrecht, wie der EuGH feststellt. Ein rumänisches Gericht hatte zuvor dem Arbeitgeber Recht gegeben.
Was ist Arbeitszeit, was ist Ruhezeit?
Wichtig für das Urteil war die Frage, was konkret Arbeitszeit bedeutet und wie diese im Hinblick auf verpflichtende Fortbildungsmaßnahmen außerhalb des eigentlichen Arbeitsortes zu werten ist. Der EuGH hatte bereits 2003 in einer Leitlinie für seine Arbeitsrechtsprechung die Begriffe “Arbeitszeit” und “Ruhezeit” klar gegeneinander abgegrenzt. Arbeitszeit sind demnach Zeiten, in denen ein Arbeitnehmer für den Arbeitgeber verfügbar ist, seiner Tätigkeit nachgeht oder Aufgaben wahrnimmt. Ruhezeit ist hingegen die Zeit, die nicht Arbeitszeit ist. Beide Begriffe sind damit eindeutig gegeneinander abgegrenzt. Arbeitszeit kann nicht Ruhezeit sein und umgekehrt – das folgt logisch aus der Definition.
Für die Einordnung von Zeiten als Arbeitszeit ist es nicht relevant, ob der Arbeitnehmer seine Aufgaben an dem regulären Arbeitsort (Arbeitsplatz, Standort der Einrichtung usw.) erfüllt. Jeder Ort – auch außerhalb des Arbeitsplatzes – kann zum Arbeitsort werden, wenn der Arbeitgeber ihn dazu bestimmt, damit Arbeitnehmer dort bestimmten Tätigkeiten nach Weisung nachgehen. Die Tatsache, dass eine berufliche Fortbildung außerhalb des Krankenhauses, der Gesundheitseinrichtung usw. bei einem Bildungsanbieter stattfindet, steht der Arbeitszeit-Zuordnung also nichts entgegen – ganz im Gegenteil. Ist der Bildungsanbieter vom Arbeitgeber beauftragt, ist davon auszugehen: es handelt sich um Arbeitszeit. Dafür spricht auch, dass sich der Arbeitnehmer während der Bildungsmaßnahme im Verfügungsbereich des Arbeitgebers befindet. Eine Pflicht-Fortbildung ist daher definitiv keine Ruhezeit.
Anspruch auf Überstundenvergütung oder Zeitausgleich
Die rechtliche Einordnung von Pflicht-Fortbildungen als Arbeitszeit hat Konsequenzen für Beschäftigte. Bei Beschäftigung in Krankenhäusern, Kliniken, Pflegeheimen usw. ist grundsätzlich das Krankenanstalten-Arbeitszeitgesetz zu beachten. Wo dieses Gesetz nicht greift, gilt das allgemeine Arbeitszeitgesetz. Beide Gesetze verwenden für den Arbeitszeit-Begriff identische Definitionen und treffen gleichartige Regelungen für Überstunden-Vergütungen. Der wesentliche Unterschied liegt vor allem in den konkreten Vorgaben für Tages- und Wochenarbeitszeiten.
Wenn in der Konsequenz des EuGH-Urteils Pflicht-Fortbildungen außerhalb der regulären Arbeitszeiten ebenfalls als Arbeitszeit zu werten sind, müssen diese bei der Erfassung der geleisteten Arbeitszeit berücksichtigt werden. Kommt es dadurch zu Überstunden, besteht ein Anspruch auf Überstundenvergütung – der gesetzliche Zuschlag beträgt hier 50 Prozent – oder auf Zeitausgleich. Grundsätzlich dürfen Arbeitgeber Überstunden nur im gesetzlichen Rahmen und unter Beachtung “berücksichtigungswürdiger Interessen” des Arbeitnehmers anordnen. Was “berücksichtigungswürdige Interessen” sind, ist allerdings ein dehnbarer Begriff.
Und was gilt bei freiwilligen Fortbildungen?
Bei Verstößen gegen die Arbeitszeit-Bestimmungen drohen Geldstrafen, außerdem kann der Arbeitnehmer ggf. Regressansprüche gegen seinen Arbeitgeber geltend machen. Keine Arbeitszeit stellen im Übrigen Fortbildungszeiten dar, die im Rahmen einer freiwilligen Fortbildung außerhalb der regulären Arbeitszeit entstehen – auch dann wenn der Arbeitgeber die Maßnahme bezahlt oder bezuschusst. Eine “Grauzone” in puncto “Freiwilligkeit” ist daher weiterhin gegeben.