Gendersprache ist fast jedem ein Begriff und ein kontroverses Thema. Mit Gendermedizin können viele medizinische Laien dagegen noch nicht viel anfangen. Höchste Zeit, dass sich das ändert. Die Österreichische Gesundheitskasse (ÖKG) möchte diesen Ansatz künftig verstärkt in den Fokus rücken. Gendermedizin will bei der Untersuchung und Behandlung von Krankheiten geschlechtsspezifische Unterschiede mehr berücksichtigen als das heute der Fall ist. Dabei sind solche Unterschiede signifikant. Das zeigt sich zum Beispiel bei der durchschnittlichen Lebenserwartung. Frauen werden in Österreich im Schnitt fünf Jahre älter als Männer. In der medizinischen Versorgung werden die Geschlechter dagegen mehr oder weniger „über einen Kamm geschoren“.
Frauen haben in der Versorgung oft das Nachsehen
Trotzdem gibt es geschlechtsbezogene Auffälligkeiten – zum Beispiel bei koronaren Herzkrankheiten. Daten eines Wiener Krankenhauses zeigen deutlich mehr behandelte männliche Herzpatienten als weibliche. Das liegt nicht etwa am unterschiedlichen Krankheitsrisiko. Der Grund ist: Frauen zeigen bei Herzinfarkten oft diffuse Symptome, die zunächst nicht richtig zugeordnet werden können, während bei Männern die Symptomatik zweifelsfreier ist. Die Chance, schnell zielführend behandelt zu werden, ist bei ihnen entsprechend größer. Dazu passt, dass Frauen häufiger an Herzinfarkten sterben als Männer.
Auch bei Erkrankungen durch Viren und Bakterien sind Frauen oft im Nachteil. Ihr Immunsystem ist zwar abwehrstärker als das männliche. Dafür ist die Wahrscheinlichkeit von Autoimmunerkrankungen bei ihnen höher. Das Risiko solcher die körpereigene Abwehr attackierender Erkrankungen ist bei Frauen viermal so hoch wie bei Männern. Frauen erkranken außerdem dreimal so häufig an Multipler Sklerose und leiden öfter an Osteoporose oder Depressionen. Geschlechtsspezifische Unterschiede sind in der Forschung lange vernachlässigt worden, Studien waren in vielen Fällen „männerzentriert“.
Geschlechterunterschiede nicht nur biologisch sehen
Dies will die Gendermedizin anders machen. Sie befasst sich mit geschlechtsspezifischen Krankheitsursachen, -ausprägungen und -behandlungen. Dabei wird das Geschlecht nicht nur rein biologisch verstanden, sondern als ein „Kontinuum“ aus biologischen und psychosozialen Einflüssen. Die Wichtigkeit von geschlechtsspezifischen Ansätzen in der Medizin hat die ÖKG kürzlich anlässlich der Vorstellung des aktuellen Gesundheitsbarometers betont. Unter dieser Überschrift liefert die ÖKG regelmäßig Zahlen, Daten und Fakten zur gesundheitlichen Versorgung in Österreich.
Bei der Präsentation wurde besonders auf die Bedeutung von genderspezifischer Prävention hingewiesen. Für Frauen ab 45 seien ein PAP-Abstrich und die Mammographie sehr anzuraten, Männer ab 50 sollten regelmäßig ein Prostata-CT durchführen lassen. Mit diesen Vorbeugemaßnahmen könne dem Risiko geschlechtsspezifischer Krebserkrankungen wirksam entgegengewirkt werden. Je früher eine Erkrankung erkannt werde, umso besser seien die Behandlungsaussichten.
Nicht nur die ÖKG ist für geschlechtsspezifische Medizin
Die ÖGK ist keineswegs die einzige Institution im Land, die sich um die Berücksichtigung von Geschlechterunterschieden in der Medizin kümmert. Bereits seit 2007 besteht die Österreichische Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin, ein interdisziplinärer medizinischer und wissenschaftlicher Zusammenschluss. An der Medizinischen Universität Wien wird ein Universitätslehrgang Gender Medicine angeboten. Hier kann das Fach im Rahmen einer universitären Weiterbildung belegt werden.