In Österreich geht bereits das Studium der Humanmedizin auf Fragen zur Medizinethik ein. Im Berufsalltag sehen sich Mediziner immer wieder mit den ethischen Aspekten des ärztlichen Handelns konfrontiert. Welche Grenzen dabei gelten wird vor allem von den Wertvorstellungen der jeweiligen Gesellschaft bestimmt. In welchen Fällen überschreiten Ärzte ethische Grenzen? Und an welchen Leitlinien und Prinzipien können sich Mediziner orientieren?
Was ist Medizinethik?
Die Medizinethik ist aktuell aufgrund der Corona-Krise in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Stark ausgelastete Intensivstationen und knappe Personalressourcen machen schwierige Entscheidungen notwendig. Medizinethische Fragen haben aber auch an Bedeutung gewonnen, da Ärzte immer stärker im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und dem Gebot zu Heilen stehen.
Moral vs. Ethik
Doch was bedeutet Medizinethik eigentlich konkret? Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst zwischen Moral und Ethik zu unterscheiden. Als Moral bezeichnet man die Summe aller Normen, Grundsätze und Wertvorstellungen, die eine Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit als verbindlich akzeptiert. Die ärztliche Moral spiegelt sich zum Beispiel in den Grundsätzen “Heilen, Helfen, Lindern” und “erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen” wider.
Die Ethik geht einen Schritt weiter. Sie fragt danach, warum etwas richtig oder falsch ist und wie sich moralische Prinzipien praktisch umsetzen lassen. Ethisch-moralische Vorgaben finden sich bereits im Eid des Hippokrates, etwa das Gebot zu nutzen, das Verbot zu schaden und die Schweigepflicht.
Medizinethik vs. Medizinischer und technischer Fortschritt
Der medizinisch-technische Fortschritt wirft weitreichende ethische Herausforderungen auf. So haben sich zum Beispiel lebensverlängernde und lebenserhaltende Maßnahmen im Laufe der letzten Jahrzehnte stetig verbessert. Dabei stehen Ärzte jedoch vor der Frage, welche präventiven Maßnahmen bei sehr betagten Patienten hilfreich und sinnvoll sind.
Andere Fragen betreffen die Forschung am Menschen selbst. In den vergangenen Jahren hat unter anderem die Stammzellenforschung zur Diskussion ethischer Aspekte geführt. Zur Gewinnung und Forschung humaner embryonaler Stammzellen gelten international unterschiedliche Regelungen. In Österreich ist zwar die Herstellung embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken verboten, nicht aber der Import und die Beforschung bereits existierender embryonaler Stammzellen.
Medizinethik und ihre Grenzen
An ihre Grenzen stößt die Medizinethik in Fällen, für die es noch keine klaren moralischen und rechtlichen Vorgaben gibt. So haben beispielsweise Forscher vom Salk Institute in San Diego Embryonen von Javaner-Affen mit menschlichen Zellen injiziert. Die Hoffnung ist, dass in den Affen transplantationsfähige menschliche Organe heranwachsen. Wie verhält es sich aber mit dem rechtlichen Status der auf diese Weise entstandenen Mischwesen? Wie hoch muss der Anteil menschlicher Zellen sein, um ein Lebewesen als Mensch anzuerkennen? Und ist es überhaupt ethisch vertretbar Tiere derartigen Experimenten zu unterziehen?
Ethische Grenzen gelten allgemein dann als überschritten, wenn der Arzt den Grundsatz “Heilen, Helfen, Lindern” bewusst verletzt, etwa einem Patienten ohne dringenden Grund die Behandlung verweigert. Weiterhin muss ärztliches Handeln dem Prinzip der Gerechtigkeit folgen. Eine ethische Grenzüberschreitung wäre zum Beispiel gegeben, wenn ein Patient aufgrund seines sozialen Status bevorzugt wird.
Zudem wird heute von Ärzten erwartet, das Selbstbestimmungsrecht der Patienten zu respektieren. Das gilt selbst, wenn der Patient unvernünftige medizinische Entscheidungen trifft, etwa eine lebensrettende Behandlung ablehnt. Eine gegen den Willen des Patienten durchgeführte Behandlung würde als Grenzüberschreitung gelten.
Medizinethik – Typische medizinethische Fragen
Mit bestimmten Fragen zur Medizinethik müssen sich Ärzte während ihrer Tätigkeit immer wieder auseinandersetzen. Dazu gehören etwa ethische Fragen zum Lebensanfang, zum Lebensende und zu lebensverlängernden Maßnahmen.
Ethische Fragen am Lebensanfang
Ethische Fragen zum Lebensanfang beginnen damit, wie der Beginn des Lebens zu definieren ist. Fängt das Leben bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle an? Beginnt es, wenn sich die Eizelle in der Gebärmutter einnistet? Oder erst, wenn die Hirntätigkeit einsetzt?
Als ethisch wenig problematisch gilt heute die künstliche Befruchtung. Anders sieht es allerdings bei der Frage aus, ob Ärzte eine Vorauswahl der Embryonen treffen dürfen oder Frauen eine Mutterschaft mit 50 oder 60 Jahren ermöglichen sollten.
Weitere ethische Fragen ergeben sich durch die Pränataldiagnostik. Sie ermöglicht es, schwere Fehlbildungen frühzeitig zu erkennen. Allerdings besteht das Risiko, dass auf diesem Wege eine genetische Selektion von Embryonen erfolgt.
Ethische Fragen am Lebensende
Ethische Probleme bei der medizinischen Betreuung am Lebensende betreffen zum Beispiel den Konflikt zwischen den Behandlungswünschen der Patienten und der Zulässigkeit und Indikation der Maßnahme.
Im Konflikt zwischen dem ärztlichen Grundsatz des Heilens und der Patientenautonomie steht unter anderem die Sterbehilfe. In Österreich können dauerhaft schwerkranke und unheilbar kranke Patienten, die eine Hilfe zur Selbsttötung in Anspruch nehmen möchten, ab 2022 eine Sterbeverfügung einrichten.
Ethische Fragen wirft auch die Organentnahme bei hirntoten Patienten auf. Da der Ausfall der Hirnfunktionen irreversibel ist, gilt die Entnahme von Organen im Falle eines Hirntods als ethisch zulässig.
Ethische Fragen zu lebenserhaltenden Maßnahmen
Mit ethischen Fragen muss sich ein Arzt auch auseinandersetzen, wenn lebenserhaltende Maßnahmen ergriffen werden sollen. Im Allgemeinen ist hierbei der Patientenwille zu beachten. Hat der Betroffene jedoch keine Patientenverfügung verfasst und können auch Angehörige keine Entscheidung treffen, obliegt es dem Arzt, geeignete Maßnahmen auszuwählen und zu bestimmen, wie lange die lebenserhaltenden Maßnahmen aufrechterhalten werden sollen.
Medizinethik und Lösungsstrategien im ärztlichen Alltag
Im Berufsalltag müssen sich Mediziner immer wieder mit den ethischen Aspekten des ärztlichen Handelns auseinandersetzen. Um ethische Lösungen für komplexe Probleme zu finden, sind vier Prinzipien der Medizinethik ausschlaggebend: das Prinzip des Wohltuns, des Nichtschadens, der Gerechtigkeit und der Patientenautonomie.
Neben dem Gesetzgeber geben die österreichischen Ethikkommissionen Richtlinien für ethische Entscheidungen im ärztlichen Arbeitsalltag vor. Die Lösungsstrategien orientieren sich dabei an zwei Punkten:
- Indikation: Jede medizinische Behandlung muss das Potenzial haben, für den Patienten hilfreich zu sein. Die Indikation ergibt sich aus dem Abwägen zwischen Schaden und Nutzen für den Patienten.
- Patientenwillen: Neben einer Indikation bedarf jede Behandlung der Einwilligung des aufgeklärten Patienten. Bei Kindern unter 14 Jahren gilt der Wille des gesetzlichen Stellvertreters.
Für bestimmte medizinische Sonderfälle geben die Ethikkommissionen eigene Entscheidungshilfen heraus. So hat beispielsweise die Arbeitsgruppe Ethik der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin Empfehlungen für die Intensivtherapie von COVID-19-Patienten erarbeitet.