Die Zahl der Kassenärzte und -ärztinnen in Österreich geht immer weiter zurück. Wie Daten des Rechnungshofs und der Ärztekosten-Statistik zeigen, sind derzeit 200 Arztpraxen mit Kassenverträgen unbesetzt. Mehrere hunderttausend Menschen in Österreich haben keinen Hausarzt in ihrer unmittelbaren Nähe. Gleichzeitig gewinnen private Krankenversicherungen und Wahlärzte an Beliebtheit. Welche Gründe gibt es für diese Entwicklung?
Immer weniger Kassenärzte für immer mehr Patienten
Währen die Zahl der Patienten stetig zunimmt, bleiben immer mehr Kassenarztstellen in Österreich unbesetzt. Laut Bericht des Rechnungshofs stieg die Anzahl der Patienten pro Quartal im Zeitraum zwischen 2009 und 2019 von 17,5 auf 18,5 Millionen an, eine Zunahme um sechs Prozent. Im selben Zeitraum ging die Zahl der Allgemeinmediziner mit Kassenvertrag um ebenfalls sechs Prozent zurück und fiel von 3.944 auf 3.706.
Insgesamt sind derzeit 200 Arztpraxen mit Kassenverträgen nicht besetzt, darunter 121 in der Allgemeinmedizin. Das hat zur Folge, dass sich Hausärzte um immer mehr Patienten kümmern müssen. Wie aus der Ärztekosten-Statistik hervorgeht, ist ein Hausarzt heute im Schnitt für 2.300 Einwohner zuständig. Im Jahr 1998 stand noch ein Hausarzt pro 2.000 Einwohner zur Verfügung. Der Rechnungshof kommt zu dem Ergebnis, dass ein Hausarzt heute elf Prozent mehr Patienten versorgen muss als im Jahr 2009. Insgesamt betreuen Hausärzte im Schnitt 4.900 Patienten im Quartal.
Nicht nur die Zahl der Allgemeinmediziner mit Kassenverträgen sinkt. Bei den Fachärzten der Kinderheilkunde sind aktuell 39 Kassenstellen unbesetzt, bei den Fachärzten der Frauenheilkunde sind es 16. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie stehen in ganz Österreich für 330.000 Kinder und Jugendliche nur sechs Kassenordinationen und 15 Wahlärzte zur Verfügung.
Dass Kassenärzte fehlen, macht sich in einigen Regionen deutlicher bemerkbar als in anderen. Besonders stark fällt der Rückgang in Oberösterreich (- 5 Prozent), in der Steiermark (- 10 Prozent) und in Wien (- 13 Prozent) aus.
Welche Gründe gibt es für die Entwicklung?
Die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) führt die Entwicklung unter anderem auf längere Öffnungszeiten in Gruppenpraxen zurück, und auch darauf, dass heute mehr technische Möglichkeiten wie die E-Card oder elektronische Krankschreibungen genutzt werden. Die Mediziner selbst sehen das allerdings anders. Sie beklagen vor allem, dass Kassenärzten zu wenig Zeit für die Betreuung der Patienten zur Verfügung steht. Auch vorgeschriebene Mindestöffnungszeiten und weitere Vorgaben machen die Tätigkeit als Kassenarzt unattraktiv.
Zu wenig Zeit für die Betreuung von Patienten
Mit einem Verdienst von 130.000 bis 300.000 Euro im Jahr liegen Kassenärzte zwar weit über dem Einkommensdurchschnitt. Aus den Einnahmen heraus müssen sie allerdings den gesamten Betrieb der Ordination bezahlen. Die Höhe des Verdienstes hängt zudem von der Menge der Behandlungen ab.
Wie die Ärztekammer berichtet, betreut ein Allgemeinmediziner durchschnittlich 100 bis 120 Patienten pro Tag. Dem Bericht des Rechnungshofs ist zu entnehmen, dass es am Tag zu durchschnittlich 65 Konsultationen mit E-Card kommt. Für eine individuelle Betreuung der Patienten fehlt da die Zeit. Gespräche, um eine Beziehung zum Patienten aufzubauen, können Kassenärzte zudem nicht abrechnen. Der Leistungskatalog führt nur spezielle Untersuchungen und Eingriffe auf. Viele Mediziner wünschen sich daher, dass die Leistungskataloge überarbeitet werden. Grundsätzlich stimmt die Gesundheitskasse diesem Wunsch auch zu. Geändert hat sich in den vergangenen Jahren dennoch nichts. Die Ärztekammer führt dies auf den Sparzwang der Gesundheitskasse zurück.
Fehlendes Mitspracherecht der Gemeinden
Ein weiterer Grund für den Rückgang an Kassenärzten: Die Gemeinden haben bei der Besetzung der Kassenarztstellen kein Mitspracherecht. Wo und zu welchen Bedingungen Kassenarztstellen besetzt werden, legen die ÖKG und die Ärztekammer fest. Mit der Zentralisierung der ÖKG dürfte sich dieses Problem noch verschärfen.
Zu viele Vorschriften und unattraktive Arbeitszeiten
Um die ärztliche Versorgung im gesamten Bundesgebiet sicherzustellen, schreibt die ÖKG Kassenärzten vor, wo sie sich niederlassen dürfen. Auch Mindestöffnungszeiten sind vorgegeben. Die vielen Vorgaben schrecken vor allem junge Mediziner ab. Vorgeschriebene Arbeitszeiten am frühen Morgen und späten Abend machen es schwierig, Beruf und Familie zu vereinen. Weiterhin müssen sich Kassenärzte Qualitätsprüfungen stellen und Berichtspflichten nachkommen – das bedeutet Mehrarbeit.
Bedürfnisse von ÄrztInnen und Patienten haben sich gewandelt
Sowohl Ärzte als auch Patienten wünschen sich eine Abkehr von der “5-Minuten-Medizin”, die die Behandlung beim Kassenarzt kennzeichnet. Auf einen Termin beim Kassenarzt müssen Patienten zudem oft mehrere Monate warten. Das möchten viele nicht hinnehmen. Beides begünstigt die Abkehr vom Kassenarzt hin zu den Wahlärzten.
Angesichts der derzeitigen Entwicklung befürchten Gesundheitsexperten eine Ausbreitung der Zwei-Klassen-Medizin. Maßnahmen, die dem Rückgang der Kassenärzte entgegenwirken, sind rar. Das Regierungsprogramm sieht eine “Erweiterung der Vertragsarztmodelle” vor. Ein Vorschlag der ÖGK, jedem Arzt einen Kassenvertrag anzubieten und die Kassenrefundierung für Wahlärzte zu streichen, wurde von der Ärztekammer entschieden abgelehnt. Die Regierung verwarf die Idee daraufhin.