Mit Wirkung zum 1. Jänner 2022 hat der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) die Strafbarkeit der Beihilfe zum Suizid, die sogenannte passive Sterbehilfe, aufgehoben. Der Straftatbestand verstoße gegen das Recht auf Selbstbestimmung und sei damit verfassungswidrig, begründeten die Richter ihre Entscheidung. Keine Änderung gibt es für den Straftatbestand der Tötung auf Verlangen.
Verbot der “Hilfeleistung zum Selbstmord” verstößt gegen das Recht auf Selbstbestimmung
Initiiert wurde die Verfassungsklage vom Schweizer Verein Dignitas. Im Namen von vier Antragstellern, darunter ein Arzt und drei Schwerkranke, hatte der Verein Klage eingereicht und sich dabei auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte berufen. Dieser hatte im Jahr 2011 die Freiheit, über Art und Zeitpunkt des eigenen Ablebens zu entscheiden, als Grundrecht bestätigt.
Nach mehrmonatigen Beratungen ist der VfGH im Dezember 2020 zu einem Urteil gekommen und folgt darin dem Antrag in einem Punkt: Bislang sieht § 78 Strafgesetzbuch (STGB) sechs Monate bis fünf Jahre Haft für Personen vor, die einen anderen zum Selbstmord verleiten “oder ihm dazu Hilfe leisten”. Den Verfassungsrichtern zufolge verstößt die Wortfolge “oder ihm dazu Hilfe leisten” gegen das Recht auf Selbstbestimmung. Da diese Formulierung jede Art der Hilfestellung unter allen Umständen verbiete, sei sie verfassungswidrig und aus dem Paragrafen zu streichen.
Der Straftatbestand der Beihilfe zum Suizid wird mit dem Urteil zum 31. Dezember 2021 aufgehoben. Der Gesetzgeber muss bis dahin geeignete Maßnahmen treffen, die einen Missbrauch des Urteils verhindern und festlegen, im welchem Ausmaß die Beihilfe zum Suizid in Zukunft erlaubt sein soll.
Widersprüche in der Gesetzgebung ausgeräumt
Nach Auffassung der Richter steht § 78 STGB nicht nur im Widerspruch zur freiheitlichen Selbstbestimmung, sondern auch zu § 49a Abs. 2 des Ärztegesetzes von 1998. Durch § 49a Ärztegesetz werde sogar das vorzeitige Ableben eines Patienten durch eine palliativmedizinische Behandlung in Kauf genommen, sofern sie die Leiden des Patienten lindert. Angesichts dessen sei es nicht gerechtfertigt, jegliche Hilfe zum Suizid per Gesetz zu unterbinden, so die Verfassungsrichter. Mit ihrem Urteil wollen sie diese Widersprüche in der Gesetzgebung ausräumen.
Sterbehilfe: Tötung auf Verlangen bleibt strafbar
Der erste Bestandteil des § 78 STGB bleibt dagegen bestehen: Es ist weiterhin strafbar, eine andere Person zum Suizid zu verleiten. Die Entscheidung, das eigene Leben unter Mithilfe eines Dritten zu beenden, muss frei und unbeeinflusst getroffen werden. Weiterhin strafbar bleibt auch die Tötung auf Verlangen, die mit sechs Monaten bis fünf Jahren Haft geahndet wird.
Kritik von Ärztekammer und Kirchen
Kritik am VfGH-Urteil kommt von den Kirchen und der Ärztekammer. Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche befürchten, dass das Urteil dem Schutz des menschlichen Lebens die Grundlage entzieht und die Solidarität gefährde. Die Ärztekammer betont das Risiko, dass ältere und kranke Menschen nun verstärkt unter Druck geraten, eine Daseinsberechtigung erbringen zu müssen.
Auch der VfGH sieht durchaus die Gefahr, dass soziale und ökonomische Faktoren die Entscheidungsfreiheit von älteren und schwer kranken Menschen beeinflussen können. Die Verfassungsrichter rufen daher den Gesetzgeber dazu auf, bis zum 1. Jänner 2022 geeignete Schutzmaßnahmen zu treffen, die das Grundrecht auf Leben schützen, ohne in das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen einzugreifen.